Kleine Deutschlandkunde

 

Neulich brachte Victoria ihr vollgeschriebenes Heft mit nach Hause und sollte dafür noch ein hübsches Deckblatt gestalten. Sie schrieb also „Il mio secondo quaderno di italiano“ (mein zweites Italienischheft) und begann dann, in comicartigen Kästchen Dinge zu schreiben und zu malen, die ihr gerade in den Sinn kamen: „Questa è la mia amica Emma.“ (Das ist meine Freundin Emma.) „Questa è la mia scuola.“ (Das ist meine Schule.) Als ihr nichts mehr einfiel, half ich mit ein paar Ideen weiter, aber erst „Ich komme aus Deutschland.“ und „Jetzt wohne ich in Italien.“ fand sie gut. Neben die Sätze „Vengo dalla Germania.“ und „Adesso vivo in Italia.“ wollte sie die deutsche und die italienische Fahne malen. Ich fragte, ob sie denn wüsste, wie die Deutschlandfahne aussieht und die Antwort kam prompt: „Ja, Schwarz – Weiß – Rot!“ Darüber war ich doch etwas erschrocken. Eigentlich hatte Victoria die Fahne im letzten Sommer aufgrund der (für uns sehr kurzen) Fußball-WM schon gut gekannt. Als ich nachfragte, erzählte sie von einer Landkarte in der Schule. Darauf ist Deutschland noch mit der Reichsflagge versehen. Ich frage mich, wie lange diese Karte dort schon hängt – da hätte ich ja eher noch ein geteiltes Deutschland erwartet.

Meiner Erfahrung nach sind die Italiener Deutschland gegenüber aber sehr positiv eingestellt. Tatsächlich wurde ich wider Erwarten noch nie zu den Ost-West-Verhältnissen gefragt. Viele, die wissen möchten, woher ich genau komme, kennen Dresden, seine Kultur und sogar den Vergleich als Firenze sull’Elba (Elbflorenz). Oft werde ich verwundert gefragt, warum wir ausgerechnet nach Italien gekommen sind, wo doch in Deutschland so Vieles besser funktioniert als hier. In Italien findet generell eher ein Überschwappen nach Norden statt: aus dem Süden und dem Nahen Osten kommen viele Migranten nach Italien. Die Italiener selber, besonders Akademiker, verlassen ihr Land in Richtung Norden, da sie hier wenig Arbeit finden. Deutschland ist dabei ein ziemlich gefragtes Ziel. Ich selber kenne in Dresden mehrere italienische Akademikerfamilien, die dauerhaft dort bleiben wollen. Dieses Phänomen hat sogar einen Namen: La fuga dei cervelli – die Flucht der Gehirne.

In der Tat muss ich immer wieder feststellen, dass wir aus Deutschland in vielen Bereichen ziemlich verwöhnt sind, zum Beispiel mit der Infrastruktur, dem Gesundheitssystem und den Sozialhilfen. Natürlich ist Italien kein Entwicklungsland, aber Einiges bleibt eben doch auf der Strecke. Was man als Urlaubsbesucher als rustikalen und südlichen Charme empfindet, beginnt irgendwann zu nerven, wenn man hier wohnt. Mit unpünktlichen Bussen kann man eben nicht gut planen, und die tristen Wartezimmer ohne Bilderbücher beim Kinderarzt lasse ich auch gern wieder hinter mir.

Völlig veraltete Landkarten in der Schule sind da eigentlich nicht so trivial. Als die Reichsflagge in Deutschland verwendet wurde, hatte Italien immerhin noch einen König und in Afrika Kolonien! Und da in den Kinderköpfen beim täglichen Anblick eben doch so einiges hängenbleibt, sollte ich der Schule vielleicht mal eine aktuelle Landkarte sponsern.

In das letzte Kästchen schrieb Victoria übrigens: „Ciao, vado in Germania!“ – „Tschüss, ich geh nach Deutschland!“.

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